ANKUNFT Eine Oase ist ein Ort des Ankommens. Ein Punkt auf der Erde, zu dem sich die Freude auf langer Wanderung ausstreckt und der dadurch den Vorstellungen eines Paradieses nahe kommt. Als ich einen solchen Ort erreicht hatte, bekam ich den Eindruck, dass sich hier mein gewohntes, bisweilen getriebenes und durch die Lasten der Zeit beladenes Dasein beruhigte. Mit meinen Augen gesehen, gingen die Arbeiten der hier lebenden Menschen, die ich beobachten konnte, gemächlicher vonstatten, als ich es kannte. Beispielsweise erschien mir das Verknoten eines Strickes durch einen Ziegenhirten wie ein Prozess in Zeitlupe. Aber auch in vielem anderen wurde dadurch Absicht und Ästhetik der Bewegungen deutlicher wahrnehmbar. Die Kaubewegungen der Kamele erschienen mir, als seien sie durch einen zäheren Fluss der Zeit verlangsamt. Der Wind bewegte die Kleider der Frauen zwar rasch und unstet, aber sie selbst schritten auf den Pfaden zwischen den Lehmhäusern wie auf einer feierlichen Prozession. Besonders die Begegnungen mit den Menschen gewannen an Wert, denn Zeit für gegenseitige Zuwendung war reichlich vorhanden. Ablenkungen gab es kaum. Die Ausführungen der alltäglichen Arbeiten schienen sich träge und unaufhörlich auf einen Zustand der Ruhe hin zu bewegen. Die Oase war ja ein Ort des Ankommens und somit auch ein Platz des Innehaltens. Sie lebte dadurch, dass sich alles vom Gedeihen abhängige auf sie hin bewegte, wie zu einem Stern, dessen Anziehungskraft unüberwindbar ist.
STILLE Außer den Augen, die mit der angebotenen Leere erst zurechtkommen mussten, waren die Ohren die am feinsten geforderten Sinnesorgane. Wenn es denn, bald nach meiner Ankunft eine erste, zugegebenermaßen grobe und offensichtliche Rangfolge der auffallendsten Laute in Farahzad gäbe, an die ich mich erinnere, würde sie etwa so aussehen: Zuerst die unregelmäßig und hell schlagenden Glocken der Kamele. Dann deren gurgelndes und kehliges Blöken. Der behäbige Dieselmotor des Lastwagens mit seinem großen Wassertank. Manchmal am Tage auch der nervösere Vierzylinder eines PickUp. Beide Motoren verursachten aber doch so unaufdringliche Geräusche, die sich, kaum wahrgenommen, rasch im Sand und in der weiten Reflexlosigkeit der Ebene restlos auflösten. Im zum Himmel offenen Hof nahm jemand einen heißen Teekessel mit leichtem Kratzen am Eisengestell vom Holzfeuer. Die Worte der wenigen Menschen waren wie der Wind. Sie fügten sich durch ihren schwingenden Klang der Sprache ein in die luftdurchlässigen Mauern aus Lehm, bogen sanft um die rund geschliffenen Ecken der Gehöfte und verteilten sich dann gleichmäßig und gemächlich in weiche Teppiche sinkend, auf den Böden der wohltemperierten Wohnräume. Eine im Flug aufgehaltene, leere Papiertüte schabte mit ihren Kanten kurz am Fundament eines Stalles, bevor sie in einer windschattigen Ecke vorübergehend zur Ruhe kam. Vereinzelte Solarzellen, auf dünnen Stangen montiert, verwirbelten leise pfeifend den Wind und schauten dabei in die Sonne. Es war nicht still in Farahzad.
WEITE Es gibt unter den ungezählten Käferarten nicht wenige, die zu ihren Lebzeiten nie den Umkreis jenes Baumschattens verlassen, unter dem sie geboren werden. Hier finden sie all das, was das Universum für sie ausgedacht hat, was zum Leben genügen muss und meistens auch reicht. Meine Vorstellung von Weite wurde aufs neue geweckt, als sich einige Sandkörner bewegten, weil sich ein kleiner, schwarzer Käfer aus dem etwas kühleren Erdinneren, nur Zentimeter unter der Oberfläche, zur Sonne heraufarbeitete. Die flinken vorderen Beine schaufelten lose Körnchen zu den hinteren Beinen, um den Körper dadurch Schritt für Schritt, Millimeter für Millimeter, nach vorne zu schieben. Unbeeindruckt arbeitete sich das Tier weiter, wenn auch Lawinen von Sandwehen die soeben zurückgelegte Wegstrecke zunichte machten. Seine Ausdauer war unermüdlich. Als ich von diesem Geschehen im Sand kniend aufschaute, hielt mein Blick nur Bruchteile von Sekunden später dort an, wo sich die flache Erde mit einem gezackten, bergigen Horizont traf. Die Entfernung dorthin erschien mir unermeßlich groß. Ich konnte weiter sehen, als ich zum Gehen im Stande war. Drehte ich mich auf den Knien im Kreis, erlebte ich das gleiche für jede Himmelsrichtung. Meine Augen waren immer dort, wo mein Körper noch nicht war. Das war eine interessante Vorstellung, denn die Augen sind ja dazu da, dem Geist eine Vorstellung von Zukunft zu ermöglichen, dort zu sein, wo der Horizont Weiterwege eröffnet.
WANDEL Meinen Vorstellungen nach, könnte die Erfindung der Sanduhr an diesem Ort geschehen sein. Der Lauf der Sonne war jeden Tag vollkommen sichtbar, ohne durch Pflanzen, Erderhebungen oder Bauten gestört zu werden. Vom ersten Aufblitzen des Sterns in meiner Pupille, bis zum Zenit im Gleichmaß steigend, und dann ebenso im gewohnten Bogenlauf sinkend, bis der letzte Strahl einem Sandkrümel seine Form nahm. Die Zeit zwischen diesen beiden Zuständen schien kaum zu verrinnen, weil keine sich ändernden Schatten verraten konnten, wo die Sonne stand. Es war hell. Das Setzen eines Fußes vor den anderen war, in Anbetracht der Leere der Wüste, ein ungeheuerlicher optischer Eingriff, denn meine Bewegungen veränderten auf dramatische Weise durch Licht und Schatten im Sand die Proportionen meines Körpers. Ansonsten blieb alles scheinbar an seinem Ort. Der Wind bewegte zwar Tonnen von Sand, begrub abgetrocknete Gewächse unter sich, nahm sie mit oder legte sie wieder frei, aber das alles geschah in einer Langsamkeit, die für mich nicht in der kurzen Anwesenheit erfassbar war. Eine Bezugsgröße für die Wahrnehmung der Veränderung der Welt ergab sich aber, als ich in Gedanken den größtmöglichen nahe liegenden Vergleich heranzog. Außer der Erde unter den Füßen war da nur noch die nächtliche, unendliche Weite des Sternenhimmels. An einem Ort, vergleichbar mit diesem, müssen die ersten Fragen nach den Grundbedingungen der Existenz entstanden sein. Sand, aus der Hand eines Menschen zu Boden rinnend, wurde zu einem unser weiteres Dasein bestimmendes Ereignis der Betrachtungen von Zeit und Raum.
FARAHZAD. AUFZEICHNUNGEN. BELICHTUNGEN.
21x21cm, Fadenheftung, 31 Fotografien, Texte
VG Bild-Kunst Urheber Nummer 644345
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