ERKUNDUNGEN ZUR KULTURELLEN IDENTITÄT
CHRONIK EINER ANNÄHERUNG
Konzeption, Text und Fotografie
Die Festtage einer Heimatwoche sind die Ablösung der Arbeit durch das Spiel. Wirtschaft und Kultur halten beide eine Gemeinschaft zusammen. Gelingendes Leben bedarf also einer Vereinigung beider Prinzipien. Nicht zuletzt durch die aktuellen Erfahrungen während der Corona-Pandemie, stehen diese Betrachtungen nun wieder im Mittelpunkt gesellschaftlicher Entwicklung. Aus diesen erfreulichen wie auch fordernden Diskursen ergeben sich ebenso ein erneuertes Bewusstwerden über einen zeitgemässen Heimatbegriff und die damit verbundenen Traditionen und deren Rituale.
Die Voraussetzung des Lebens ist ein verlässlicher Rhythmus: das Kreisen der Planeten um die Sonne, die Jahreszeiten, Tag und Nacht, das Schlagen der Herzen. Eine Festwoche ist die Anerkennung dieses Prinzips. Es ist die Ablösung der Arbeit durch das Spiel. Aus dem Verständnis dieser Ablösung im Verlauf eines Jahres des gemeinschaftlichen Lebens im Dorf, ergibt sich auch ein sogenannter "heiliger Ernst" einer Festwoche. Im Glauben einer funktionierenden Lebensgestaltung, wird die Welt in Pole eingeteilt. Streit und Frieden, Arbeit und Spiel, Besonnenheit und Ausgelassensein. Im Alltagsverständnis handelt man nun so, dass sich die einzelnen Pole nicht berühren können, denn man glaubt, dass in der Unvereinbarkeit zweier gegensätzlicher Auffassungen, der Erfolg der jeweiligen Tätigkeit begründet sei. Die Pole stossen sich gegenseitig ab wie zwei Magnete. Man hütet sich vor einer Verschmelzung wie vor einer Kernfusion. Sie würde ungeahnte Energien in Fluß bringen, derer man nicht Herr würde. Ein Kontrollverlust wäre die Folge, der scheinbar die Prinzipien der Existenz auflöst und so die Ordnung ins Wanken bringt auf die sich das gewohnte Leben gründet. Feierlichkeiten in einer Gemeinschaft lösen jedoch seit vielen Jahrtausenden diese Annahme abstossender Polaritäten regelmässig auf und bestätigen diese gleichermassen.
Georges Bataille: „Es war offensichtlich die Sorge der Urzeiten, (...) Arbeit und Spiel, Verbot und Übertretung, den Alltag und den Rausch der Feste in eine Art von Gleichgewicht zu bringen, wobei unaufhörlich Gegenkräfte wirksam sind, das Spiel die Form der Arbeit annehmen kann, und somit die Übertretung nur zur Festigung des Verbots beiträgt“.
Das Leben im ländlichen Raum. Ein Dorf wird durch bürgerschaftliches Engagement, durch soziales Handeln, erst lebenswert. Jeder hat einen eigenen Anteil am Gelingen des Ganzen. Ob wir nun ein Dorf in Oberbayern betrachten oder einen ähnlichen Ort in unserem Kulturkreis - die grundlegenden Bedürfnisse des sozialen Miteinanders ähneln sich. Aus diesem Grund ist es weniger von Bedeutung, dass die dokumentierte Festwoche in Antdorf* im oberbayerischen Pfaffenwinkel stattgefunden hat. Die Idee dieser Fotografien ist es, einen aktuellen, festlichen Ausschnitt, ein persönliches Bild dörflichen Lebens weiterzugeben: das Zusammenwirken der Generationen, gemeinsames Lernen an einer besonderen Aufgabe, Erlebnisse schaffen, die sich in das kollektive Gedächtnis des Dorfes einprägen. Die Dokumentation kann deshalb auch ein Dokument des Innehaltens und der Reflektion über das Wesen und die stille Sehnsucht der Menschen sein. Es ist ein Beispiel unter vielen anderen ähnlichen Festwochen des traditionellen, oberbayerischen Lebens. Ein Leben bisweilen noch geprägt von alten Ritualen, indes schon eine neue Zeit mit ungewissen Anforderungen angebrochen ist. Es ist eine Zeit der apprupten, umfassenden, unaufhaltsamen Umbrüche, und dadurch die Zeit für Neubewertungen. Sie stellt unser Gemeinwesen, unseren kulturellen Konsens auf eine ungewohnte Probe.
* Die Fotografien entstanden während der Feiern des 100-jährigen Jubiläums des bayerischen Trachtenvereins „D`Waxnstoana“.
Die Fotografien sind eine persönliche Annäherung, eine chronologische, keiner Dramaturgie folgende Darstellung. Es sind Bilder einer ökonomisierten und globalisierten, doch dörflichen Welt, die mit dem Gepäck ihrer Tradition, mit ihrer verloren vermuteten, aber doch nur schlummernden Mystik, in ein als ungeordnet empfundenes Jahrtausend aufbricht. Ist das alles den Fotos zu entnehmen? Es ist nur ein Angebot, ein Versuch. Ich glaube das Werkzeug dazu, der Schlüssel, ist der Wunsch Bildoberflächen zu durchdringen.
"Fotografie kann zur humanitären Verständigung beitragen. Sie ist ein gutes Werkzeug für die Kunst im Sozialen". | Reza Deghati, Fotograf, Iran
Das letzte Fest vor Covid-19. Aus aktueller Sicht betrachtet, könnte man sagen: das Schicksal hat zugeschlagen. Hätte man damals, im Mai 2019 gewusst, dass diese Festwoche, dieses 100jährige Jubiläum, das letzte vor der Corona-Pandemie gewesen wäre; im Dorf hätte man sicher gerne noch eine Woche länger gefeiert. Ich hatte meine Kameras gepackt und bin eine Woche lang mit dem Fahrrad zum Festplatz geradelt. Und da die Zukunft ungewiss bleiben wird, vergisst man am besten jeglichen Konjunktiv und macht sich immer wieder unvermittelt an die Arbeit.
Autorenausgabe 2020, Buchformat 21x21cm, Softcover, 260 Seiten, ca. 300 Fotografien, Texte | Buch Euro 22,00 | info@gerardfotos.de
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