Dies ist die Geschichte einer Nacht und eines Tages im Frühling. Eine Erzählung von Tod und Auferstehung. Die Geschichte um eine Fichte aus dem Antdorfer Wald, die gefällt wurde, um für drei Jahre ein Symbol zu werden.
Dieser Baum also, hat am Ort seiner Geburt und auch dem seines Endes mehr als hundertzwanzig Jahre in der Gemeinschaft seiner Nachbarn gelebt: den sichtbaren und unsichtbaren Lebewesen über und unter der Erde, den Pflanzen und Pilzen und Mikroorganismen. Er hat das Waldleben in seinem Umfeld geprägt und durch diese Gemeinschaft auch erst seine Größe erhalten. Der Baum ist Heimat gewesen, hat Heimat gegeben, so wie für Menschen ein Dorf die Heimat ist. Seit der Nacht vom 30. April zum darauffolgenden 1. Mai hinterlässt der Baum eine Lücke im Wald. Es ist der Tag seines letzten Schattenwurfes. Seine im Erdreich verbliebene Wurzel wurde zu seinem Grabstein, mit eingemeißeltem Kreuz und dem Datum seines Sterbens.
Man könnte am Kirchplatz in Antdorf auch einen Fichtensamen in die Erde stecken und das Wachstum des Baumes mit Fürsorge begleiten. Ein Symbol aber, im besonderen wenn es ein Maibaum ist, muß etwas Größeres sein. Er versinnbildlicht eine Energie, die für einen Menschen unerreichbar ist.
Von allem unliebsamen Beirat wie Rinde, Ästen und Wurzel (sic!) entledigt, wird dem Baum durch gemeinschaftliche Anstrengung eine neue Bedeutung gegeben. Ein Baum, der im Wald steht, so die Vorstellung, kann noch kein Symbol sein. Erst durch eine handwerkliche Idee und seine Erfüllung, erhält der Baum auch die metaphysische Bedeutung, die ihn in ein Sinnbild verwandelt. Eine zusätzlich in den Stamm implantierte, gesegnete Reliquie verstärkt die Bedeutung. Das Umschneiden des Baumes und anschließendes Wiederaufrichten des Stammes, soll die Herrschaft des Menschen über die Natur belegen. An diesem starken Zeichen soll der Mensch sein Leben aufrichten können. Die Verwandlung einer Fichte zu einem Maibaum, dem weithin sichtbaren Signal der Fruchtbarkeit, ist aber nur über den Preis seines Todes möglich. Das Aufrichten eines ausgewachsenen Baumes durch Muskelkraft ist deutlich mühsamer als das Pflanzen und die Pflege eines Keimlinges und demonstrativ potent. Denn das ist ja auch eine Botschaft des Frühlings: in der Gewissheit des eigenen Todes, Leben weitergeben zu können.
Antdorf ist meine Heimatgemeinde. Der Ort liegt auf der Hälfte der Strecke zwischen München im Norden und Garmisch-Partenkirchen im Süden.
Ralf Gerard - Juni 2018
VG Bild-Kunst Urheber Nummer 644345
Ein bayerisches Schauspiel in zwei Akten
21x21cm, 124 Seiten,
Fadenheftung, über 100 Schwarzweissfotos
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