VIRTUELLE INDIKATOREN_WELT IM WANDEL
Konzeption, Text und Fotografie
Der Lauf der Welt ist ein fortwährender Prozess ohne Stillstand, den wir als ein dahinfließendes Gleichmaß erleben. Es gibt jedoch Zeiten, die wir als eine unverhoffte Eruption von Ungewissheiten wahrnehmen, die unser Leben plötzlich in Fragmente aufteilt, als wenn wir in einen zerbrochenen Spiegel schauen und die Welt nicht mehr zusammensetzen können um sie zu verstehen.
DIE INKUBATIONSZEIT
aus: Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit
Es war, als ob die Menscheit plötzlich ihr statisches Organ verloren hätte. Es ist dies im Grunde der Charakter aller Werde- und Übergangszeiten. Das Alte gilt nicht mehr, das Neue noch nicht, es ist eine Stimmung wie während einer Nordnacht: das gestrige Licht schwimmt noch trübe am fernen Horizont, das morgige Licht tagt eben erst schwach herauf. Es ist ein vollkommener Dämmerzustand der Seele: alles liegt in einem Zwielicht, alles hat einen doppelten Sinn. Man vermag die Züge der Welt nicht mehr zu entziffern. Wir könnten auch sagen, es sei wie bei Abendeinbruch: zum Lesen bei der Sonne schon zu dunkel, zum Lesen bei der Lampe noch zu hell; und wir werden später sehen, daß dieses Bild, auf den Beginn der Neuzeit angewendet, sogar einen ganz besonderen Nebensinn hat: bei dem natürlichen Licht Gottes im Buch der Welt zu lesen, hatten die Menschen schon verlernt; bei dem künstlichen Licht der Vernunft, das sie sich bald selbst entzünden sollten, vermochten sie es noch nicht.(...)
VIRTUELLE INDIKATOREN
Ralf Gerard
„Es“ begann schon bald nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, mit zunächst leichten Irritationen der Augen, die ich als virtuelle Indikatoren bezeichnen möchte. Unmerklich beinahe, wie ein von fern aufkommendes Unwohlsein, ein zaghafter Schwindel bloß, ohne zu wissen, wann genau „es“ begann, eine überflüssige Wahrnehmung, von der ich hoffte, dass sie bei nachlässiger Beachtung bald vorüber gehen würde. Doch hatte ich einmal aus Unsicherheit meine Konzentration darauf ausgerichtet, blieb mir nichts anderes übrig, als eine nun als giftähnlicher Einbruch wirksame, konstante Überwältigung meiner gewohnten Empfindungen festzustellen. Im folgenden kam ich ebenso nicht umhin, die Auslöschung grundlegender äusserer und im Besonderen innerer Orientierungsfunktionen festzustellen, die bis hinein in die Regelkreise der Molekularebene für ein Lebewesen vonnöten sind. Bei der Suche nach einer Möglichkeit der genaueren Überprüfung meines Zustandes in Bezug zur gewohnten Welt, zum Beispiel wie bisher üblich durch eine Kontaktaufnahme mit einem Menschen, das Berühren einer Pflanze, oder dem Aufnehmen eines Geruches, musste ich bemerken, daß ich dazu nicht imstande war. Ich begriff, dass ich in diesem Zustand keinerlei Zugriff auf die Welt hatte. Meine Hoffnung konzentrierte sich deshalb zunächst darauf, dass vielleicht etwas von ausserhalb versuchen würde, meine existenzielle Beschaffenheit zu verändern, um eine Ordnung oder zumindest eine Regelmäßigkeit wiederherzustellen. Überprüfen auf einen Erfolg ließ sich diese Hoffnung mit meinen derzeitigen Möglichkeiten nicht.
16 Indikatoren | Bildtafeln
1. Indikator
2. Indikator
3. Indikator
4. Indikator
5. Indikator
6. Indikator
7. Indikator
8. Indikator
9. Indikator
10. Indikator
11. Indikator
12. Indikator
13. Indikator
14. Indikator
15. Indikator
16. Indikator
Egon Friedell beschreibt in seinem Werk „Kulturgeschichte der Neuzeit“, den Wandel der europäischen Welt in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit.
Ein ebenso gravierender Wandel, der alle Gebiete des sozialen Lebens, Kultur, Wissenschaft und der Wirtschaft mit gemeinsamen Herausforderungen verbindet, ist in unserer Zeit deutlich spürbar geworden, nicht zuletzt durch die seit dem Frühjahr 2019 auftretende, weltweite Corona-Pandemie. Wir erfahren, daß diese Umstände in ihrer Summe die Lebensgrundlagen unserer gesamten Zivilisation in starkem Maße beeinträchtigen. Ein Gedanke, an den man sich erst noch gewöhnen muss. Die Idee des „Global Denken – Regional Handeln“ ist dringlicher denn je und verleiht einem der Verantwortung verpflichteten Heimatbegriff grundlegend neue Perspektiven. Nach dem ersten Club of Rome-Bericht 1972, der eine frühe Analyse zukünftiger globaler Wirkmechanismen darstellte, konnte man sich wider besseres Wissen bisher nur auf ein „Immer weiter so“ einigen. Die Folgen der Unbelehrbarkeit spüren wir heute. Die „Fridays For Future"-Bewegung, als eine Bewegung weltweit vernetzter Jugend, ist ein aktuelles, bedeutendes und notwendiges Beispiel bürgerschaftlichen Engagements. Sie ist in diesem Kontext mehr als eine Umweltbewegung. Sie ist Anklage und Aufruhr gegen den Mißbrauch der Schöpfung.
Unter dem Eindruck eines kurzen Textauszuges von Egon Friedell, ist die Idee der VIRTUELLEN INDIKATOREN entstanden, eine Inspiration, die einen dystopischen Ausdruck findet.
Über Egon Fridell: Geboren 1878 in Wien, ist er als Kunsthistoriker bis heute unübertroffen, obwohl er das Abitur erst im vierten, die Promotion im zweiten Anlauf schaffte. Egon Friedell war Herausgeber, Übersetzer, Schriftsteller, Conférencier, Aphoristiker, Feuilletonist, Theaterkritiker, Schauspieler, Dramaturg. Er war auch Jude: 1938, kurz nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, nahm er sich das Leben, als SA-Männer ihn abholen wollten.
Quelle: Diogenes Verlag
VG Bild-Kunst Urheber Nummer 644345
©Ralf Gerard 2018 | Impressum & Datenschutz
Ralf Gerard | Impressum